In der Monatszeitschrift AA-DACH der deutschsprachigen Anonymen Alkoholiker werden Erfahrungen der jeweiligen Verfasser/Innen mit dem AA-Programm (Schritte, Traditionen, Meetings-Begegnungen, Sponsorschaft etc.) veröffentlicht.
Sie stellen keine Stellungnahme der Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker dar und können nicht auf AA als Ganzes bezogen werden.

August 2024

Monatsthema: Süchtiges Verlangen in vielen Formen

Leseprobe:

Suchtverlagerung ist nur scheinbar eine Problemlösung

Als ich mein erstes Meeting besuchte, rauchte ich seit einiger Zeit nicht mehr – und Kaffee trank ich auch keinen, weil der mir die Wirkung des Alkohols „verdarb“. Und was sah ich da in dem Meeting? Alle rauchten und tranken Kaffee in rauen Mengen. In den folgenden Meetings war ich alkoholfrei, dafür rauchte ich und trank reichlich Kaffee. Das fand ich aber nicht schlimm, weil ich so erfreut und überwältigt war, dass das mit dem Nicht-Trinken nach schier unendlich vielen Fehlversuchen nun endlich klappte. Ich war so glücklich darüber, dass mir die Ersatzsüchte nicht so schlimm erschienen. Nach etwa zwei trockenen Jahren und sehr vielen Zigaretten ging’s mir aber gesundheitlich gar nicht gut – mir war wegen des Rauchens manchmal fast so schlecht wie früher wegen des Trinkens. Ich wünschte mir, dass ich auf das Nikotin verzichten könnte, und mir war klar, dass „weniger rauchen“ keine Alternative für mich war, ich konnte genau so wenig kontrolliert rauchen wie trinken. Außerdem fragte ich mich, ob mich meine Höhere Macht vom Alkohol befreit hatte, damit ich mit einer noch tödlicheren Sucht weitermachte? Und tatsächlich – nach einigen Monaten, mitten in einem Winterurlaub, wurde mein Nichtraucherwunsch erfüllt: Immer nur die erste Zigarette lassen, das funktionierte ausgezeichnet (bis heute), psychische und physische Entzugserscheinungen inklusive. Ich hörte im Dezember auf und war wochenlang „verschnupft“, was bei meinen AA-Freunden ziemliche Belustigung und manchmal auch Häme hervorrief. Da kam aber auch ganz schön was raus aus der Nase! Aber seitdem bin ich ganz selten erkältet und war ziemlich schnell deutlich fitter – schon nach kurzer Zeit konnte ich die Wasserkisten locker in meine Wohnung im zweiten Obergeschoss tragen – das war in Raucherzeiten erheblich schwieriger.

In meinen ersten AA-Jahren kamen oft Patienten aus der Lechler-Klinik in Bad Herrenalb in unser Freitagsmeeting. Das war eine bunte Mischung von Alkoholikerinnen und Alkoholikern mit allerlei weiteren Süchten: Drogen, Medikamente, Spielen, Arbeit, Essen, Sex und so weiter. Sie hatten so schreckliche Entzüge mit so vielen Nach- und Nebenwirkungen, dass ich überhaupt keine Lust hatte, Drogen oder Medikamente als „Suchtverlagerungsmittel“ zu verwenden – und das ist bis heute so geblieben. Ich nehme an Medikamenten nur, was absolut notwendig ist, und dann wirkt es auch.

Mein Kaffeekonsum war erheblich, was mir die ersten Jahre wenig ausmachte, doch nach acht Jahren Trockenheit hatte ich langsam kaffeebedingte Schlafstörungen und mit zwei kleinen Kindern, die auch schlafraubend waren, versuchte ich, den Kaffee zu reduzieren, und beschloss, nur noch am Samstag und Sonntag jeweils eine Tasse zu trinken. Und das hat natürlich nicht funktioniert: Ich hatte montags, dienstags und mittwochs Entzugserscheinungen, Donnerstag und Freitag ging’s dann, Samstag und Sonntag jeweils wieder eine Tasse Kaffee und dann das Ganze von vorne …. Also beschloss ich nach etwa drei Wochen die erste Tasse Kaffee (Schwarztee, die erste Cola – einfach alles, was Koffein, Teein enthält) stehen zu lassen und das ist bis heute auch so geblieben. Meinen Kreislauf bringe ich seit Jahrzehnten morgens mit den fünf Tibetern in Schwung und auch sonst kenne ich inzwischen einige nebenwirkungslose Methoden, um ohne Koffein wach zu bleiben (zum Beispiel die Denkmütze).

Was ich mir bis heute nicht „abgewöhnt“ habe: Süßigkeiten und Lesen. Bei den Süßigkeiten habe ich dann und wann mal „Ohne-Phasen“ eingelegt (mal ein paar Wochen, mal ein ganzes Jahr), gelesen habe ich immer. Allerdings bin nicht wirklich zucker- oder lesesüchtig: Ich ernähre mich überwiegend vernünftig und lese keine Nächte mehr durch, kann an den spannendsten Stellen eines Buches aufhören und das Weiterlesen auf den nächsten Tag verschieben (das konnte ich bei Alkohol, Nikotin und Koffein nie!).

Was mir beim Umgang und beim Loslassen meiner Ersatzsüchte immer sehr geholfen hat, waren Meetings zum Thema „Suchtverlagerung“, die wir früher tatsächlich ziemlich oft hatten.

Wenn ich heute mal zufällig TV-Werbung schaue, in der mit einer Pille, einem Zäpfchen, einem Spray jedem noch so kleinen Wehwehchen und Unwohlsein gleich zu Beginn der Garaus gemacht werden soll, dann denke ich: Vielleicht sollten wir wieder viel öfter solche Meetings machen? Denn leider wird in diesen Werbungen in der Regel nicht erwähnt, dass diese Mittel zwar eine Wirkung, aber ganz oft auch sehr viele Nebenwirkungen haben (die auf Dauer oft ähnlich gesundheitsschädlich sind wie Alkohol und Nikotin)

Ich habe in AA gelernt, gut mit mir umzugehen. Das heißt aber nicht, dass ich bei jedem winzigen Unwohlsein, jedem kleinen Schmerz, bei jedem Ärger und so weiter ein Mittel nehmen muss, um diesen Zustand zu beenden. Ganz oft helfen Denk- und Verhaltensänderungen. Ein Beispiel: Wenn ich – heute sehr selten – Kopfschmerzen habe, dann liegt das meist an einem Wetterumschwung, an zu wenig Schlaf, an einem zu vollgestopften Tagesplan oder daran, dass ich zu wenig getrunken habe: Ein Liter Wasser, ein Schläfchen, eine Terminreduzierung und der Gedanke „Das geht vorbei“ wirken da in der Regel Wunder. Dank dieser Methode habe ich tatsächlich seit Jahrzehnten keine einzige Kopfschmerztablette mehr genommen.

Das ist doch das Schöne an meinem trockenen und nüchternen Leben: Ich kann mein Verhalten und meine Einstellungen ändern, lerne immer noch dazu und kann dabei immer öfter auf süchtiges Verhalten aller Art verzichten.

In diesem Sinne wünsche Euch viele trockene und zufriedene 24h

Anneliese, AA aus Baden-Baden

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