In der Monatszeitschrift AA-DACH der deutschsprachigen Anonymen Alkoholiker werden Erfahrungen der jeweiligen Verfasser/Innen mit dem AA-Programm (Schritte, Traditionen, Meetings-Begegnungen, Sponsorschaft etc.) veröffentlicht.
Sie stellen keine Stellungnahme der Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker dar und können nicht auf AA als Ganzes bezogen werden.

November 2025

Monatsthema: Sie werden wahr, die Versprechen

Leseprobe:

Vorher – Nachher

Je länger ich, der Alkoholiker Eberhard mich glücklich schätzen darf, ein nützliches Teilchen im Puzzle der AA-Gemeinschaft zu sein, desto mehr schätze ich die zwölf Versprechen. Das gilt sowohl für deren Inhalt als auch für die Art der Formulierung, es gilt für den Kontext, in den sie eingebettet sind. Ich bin kein Werbefachmann, kann mir aber gut vorstellen, welch hervorragende Vorlage für eine Vorher-Nachher-Werbekampagne die Versprechen abgeben würden.

Wir alle kennen diese mit entsprechenden Bildern angereicherte Werbung für Diätmittel oder Kosmetikprodukte. Ein Bild der verhutzelten griesgrämigen Kunigunde vor der Anwendung von „Sprosibax“-Antiaging-Creme, ein strahlendes Top-Model danach; ein aufgedunsener verschwitzter Kasimir bevor, ein ranker Adonis, nachdem er das rein pflanzliche Abführmittel „Quasibex“ zum Einsatz brachte.

Die Namen in diesen Beispielen sind frei erfunden. Aber könnte AA nicht ebenso (ohne das Prinzip der Anonymität zu verletzen) mit fingierten Bildern von nassen und trockenen Spiegeltrinkerinnen und Quartalssäufern Werbung betreiben? Vor der Kapitulation, nach den ersten neun der Zwölf Schritte? AA könnte das wohl, gäbe es nicht die Elfte Tradition. In deren Langfassung heißt es: „Nach unserer Ansicht sollte die Gemeinschaft der AA auf sensationsheischende Reklame verzichten. … Unsere Beziehung zur Öffentlichkeit stützt sich mehr auf Anziehung als auf Werbung. Es besteht keine Veranlassung, uns selbst anzupreisen.“

Die zwölf Versprechen wirken auf mich so anziehend, weil sie einfach und ehrlich formuliert sind. Sie enthalten sensationelle Botschaften, preisen aber nichts an.

Gewinn und Verlust

Von den zwölf Versprechen sprechen sieben davon, welchen seelischen Gewinn wir aus dem AA-Programm ziehen können und fünf davon, welchen Verlust wir erfahren werden, was schwinden oder dahin schmelzen wird. Die fünf „Verlustversprechen“ begreife ich in der Wortwahl wie im Inhalt als besonders schön. Als sehr angenehm empfinde ich, dass das Gefühl der Nutzlosigkeit und des Selbstmitleids verschwinden wird, meine Ich-Bezogenheit in den Hintergrund treten wird, mein Egoismus dahinschmelzen wird, meine Angst vor wirtschaftlicher Ungewissheit und den Menschen schwinden wird.

Zugleich mahnen diese Verben mich, dass diese Phänomene niemals ganz weg, nie gänzlich ausgelöscht sein werden. Was in den Hintergrund tritt, kann auch wieder hervortreten, was verschwindet, wieder auftauchen. Diese fünf Versprechen sind für mich diejenigen, die mir besonders nahe sind. Mir wird nicht versprochen, dass ich ein völlig neuer Mensch ohne Fehl und Tadel werde. Aber im Vergleich zu meiner Furcht vor Menschen und vor finanziellem Ruin – ehedem meine ständige Begleiterin – stehe ich nunmehr stabiler im Leben.

Im Vergleich zu meiner früheren Egozentrik und Selbstbemitleidung sind diese Charakterfehler auf meinem Weg zur Genesung schwächer geworden. Manchmal wollen diese alten Quengler doch noch einmal an die Macht.

Besonders gefällt mir das zweite Versprechen: Wir wollen die Vergangenheit weder beklagen noch die Tür hinter ihr zuschlagen. Auch die AA-Spiritualität betont das Leben im „Hier und Jetzt“ jedoch ohne die Vergangenheit zu verachten oder zu verdrängen. Ein Zeitgenosse Bills und Bobs, der Literaturnobelpreisträger William Faulkner, wahrscheinlich auch Alkoholiker, schrieb einmal: „Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.“ Das entspricht meiner Erfahrung.

Das zweite Versprechen baut die Brücke zum fünften, das positiv formuliert ist: Wie tief wir auch gesunken waren, wir werden merken, dass andere aus unseren Erfahrungen Nutzen ziehen können. Die Verluste der Vergangenheit sind der Humus heutiger Gewinne. Auch meine Einstellung zum Leben hat sich komplett geändert, ich habe eine neue Freiheit und ein neues Glück kennengelernt und werde mit Situationen fertig, von denen ich ehedem glaubte, sie nur mit Alkohol ertragen zu können. Ich erfuhr Frieden und verstehe, was Gelassenheit bedeutet. Mit der Umsetzung derselben hapert es noch. Damit hadere ich zuweilen.

Nach Neun, vor Zehn

Dass es bei mir mit der Gelassenheit und dem Frieden noch ziemlich ruckelt, liegt nicht an den beiden Versprechen, sondern an meinen Schwächen. Zum Ende meines Beitrages möchte ich deshalb auf den Kontext dieser Versprechen hinweisen. Sie stehen im Blauen Buch im sechsten Kapitel, dem Kommentar zu den zwölf Schritten, und zwar als Überleitung von Schritt neun zu Schritt zehn.

Die zwölf Versprechen sind keine Geschenke. Sie sind der reichhaltige Lohn für mühsame Arbeit. Die zwölf Versprechen werden abhängig gemacht von einer Bedingung: Wenn wir in diesem Abschnitt unserer Entwicklung sehr gewissenhaft sind, dann werden sich diese Versprechen in unserem Leben erfüllen, noch bevor wir die Hälfte des Weges zurückgelegt haben werden. Im englischen Originaltext des Blauen Buches steht für das deutsche Adverb „gewissenhaft“ das Wort „painstaking“. Dieses Wort bedeutet wörtlich übersetzt „Schmerzen auf mich nehmend“.

Von den ersten neun Schritten waren für mich der erste, vierte, fünfte, siebte und neunte sehr schmerzhaft. Diese Schritte forderten von mir absolute Ehrlichkeit mir selbst und einem anderen Menschen gegenüber, Demut und Wiedergutmachung. Nur wenn wir sehr gewissenhaft die Schmerzen dieser Schritte auf uns genommen haben, dürfen wir hoffen, all das zu erleben, was uns für die zweite Hälfte unseres Weges versprochen wird.

Die Schritte zehn bis zwölf sind nach meinem Empfinden weniger schmerzhaft und mühsam als die ersten neun; dennoch vollziehe ich sie nicht immer ebenso gewissenhaft wie jene. In meinen Augen wäre es billige und verlogene Reklame, diesen Zusammenhang der zwölf Versprechen mit dem Neunten Schritt außer Acht zu lassen. Doch genau dieser Zusammenhang des Vorher mit dem Nachher macht für mich die zwölf Versprechen so glaubhaft.

Eberhard Bad Breisig

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