In der Monatszeitschrift AA-DACH der deutschsprachigen Anonymen Alkoholiker werden Erfahrungen der jeweiligen Verfasser/Innen mit dem AA-Programm (Schritte, Traditionen, Meetings-Begegnungen, Sponsorschaft etc.) veröffentlicht.
Sie stellen keine Stellungnahme der Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker dar und können nicht auf AA als Ganzes bezogen werden.

Juni 2025

Monatsthema: Dem Unglück mit Gelassenheit begegnen

Leseprobe:

Zum Guten gewendet

Ich stehe auf diesem Klinikflur wie angewurzelt. Kann nicht einen Schritt weiter gehen. Und muss doch aber. In den Händen trage ich links eine große Tasse Tee, rechts ein belegtes Brötchen; soeben habe ich den Imbiss in der Cafeteria gekauft. Meine Tochter braucht etwas zu essen. Wenigstens ein Angebot. Sie hat vor einigen Tagen entbunden und nun schwebt ihr Baby in Lebensgefahr. Mein Enkelchen. So etwas Furchtbares hatte ich in zweieinhalb Jahrzehnten Trockenheit noch nicht erlebt.

„Sind Sie die Oma?“ fragt mich eine grün gekleidete Krankenschwester und schaut mich mitfühlend an. Schiebt mich vorwärts in jenes Zimmer. Noch weiß keiner, was der Kleine hat. Sie haben ihn reanimiert, untersucht, beatmet, mit Medikamenten versorgt und nun ist ein großes Rätselraten im Gange. Irgendwann sitze ich vor dem Glaskasten, in dem er an Schläuchen und Drähten liegt, sitze Seite an Seite mit meiner Tochter, wir legen unsere Hände auf den winzigen Bauch. „Ich möchte ihn behalten“, flüstert mein Kind. Ja, ich auch. Möchte trösten und heilen und helfen, machtlos, wie ich bin. Bitte im Geist meine durch AA entdeckte Höhere Macht dazu, ungefähr so: „Das wäre jetzt ein guter Moment zum Eingreifen für dich, lieber Gott“ …

Wird nun alles gut mit der Trockenheit?

Lange Zeit hatte ich nicht geglaubt, dass meine Kinder überhaupt jemals Eltern werden würden, nach all dem, was sie mit mir durch meinen Alkoholismus erlebt hatten. Ich war davon überzeugt, sie verweigerten das. Aber nein: zuerst mein Sohn, dann meine Tochter – und wieder mein Sohn. Neun und elf Jahre waren sie selbst, als ich an meinem Tiefpunkt ankam und zu unserer Gemeinschaft fand; 34 und 36 Jahre waren sie nun. Ich hatte nicht wieder trinken müssen. Vielleicht dachte ich manchmal, nun würde alles gut – ohne solche leidvollen Herausforderungen jedenfalls. Hatte nicht mein Fernsponsor Walter aus Augsburg immer wieder zu mir gesagt: „Du hast genug gelitten“?

Natürlich sehe ich heute, dass er das anders gemeint haben musste. Er wusste ja aus eigener Erfahrung, dass auch das trockene Leben eben Leben ist und keine schlaraffenlandartige Glückseligkeit. Und dass trotzdem kein trockener Tag so schrecklich ist wie der letzte meiner nassen Zeit.

An jenem Tag in der Klinik auf der Geburtsstation hätte ich dem möglicherweise nicht zugestimmt. Wieso musste eines der prägendsten Traumata auf diese Weise wieder hochkommen? Als ich selber Kind war, ist meine kleine Schwester gestorben; sie war noch kein Jahr alt. Seitdem muss ich Kinder retten. Es gibt einfach kein Halten für mich, wenn auch nur die Ahnung einer Chance auftaucht, dass ich einem kleinen Erdenbewohner irgendwie nützlich sein kann.

Und dann tat ich meinen Kindern meine Alkoholkrankheit an. Ausgerechnet!

Was hat mir geholfen in dieser Zeit? Ich mutete mich immer weiter den Meetings zu. Konnte ich nicht schlafen, fuhr ich eben morgens in die erste Gruppe. Ich weinte, schluchzte, konnte kaum zuhören, begriff aber doch, dass mir Kraft gewünscht wurde, ein Taschentuch gereicht, eine weitere Telefonnummer. „Mein Enkel stirbt“, war ich mir zu Beginn eines Meetings sicher. Als es endete, sah ich von irgendwoher einen Hoffnungsschimmer. Vielleicht ja doch nicht? Unter einer großen Sonnenbrille weinte ich während der S-Bahnfahrten. Die anderen ließen mich in Ruhe.

Danke Dir, Höhere Macht!

Der kleine Junge wurde im Alter von vierzehn Tagen am Herzen operiert. Ein Jahr lang bekam er danach noch Medikamente, dann machte er einen Entzug davon durch. Ich war einfach nur da, tat das Nächstliegende und unterstützte, wo ich konnte. Irgendwann wurde ich nicht mehr gebraucht.

Die junge Familie zog in eine andere Stadt, als der „Lütte“ zweieinhalb Jahre alt war und ich ihn so richtig liebgewonnen hatte. Tja. Wieder flossen Tränen. Wieder auch in Meetings. Na und?! Für mich war ganz wichtig, in dieser Zeit weiter trocken und in AA zu sein. Ich möchte es mir gar nicht anders vorstellen.

Dieses Jahr wird er sechs und kommt in die Schule, wie sein Cousin, der Sohn meines Sohnes.

Der Draht zwischen mir und meinen drei Enkelkindern blieb bestehen, auch wenn wir nicht zusammen am selben Ort wohnen. Meine älteste Enkelin ist neun und kann mir schon eigenhändige Briefe schreiben. Das Herz des Sorgenkinds wird regelmäßig kontrolliert. Es wächst mit und ist bis heute ohne Befund, also gesund. Ich habe nicht vergessen, dafür danke zu sagen, an wen auch immer. Eine Höhere Macht, wie ich sie jedenfalls für mich begreifen kann.

„Kann passieren, was will; gesoffen wird nicht!“

Auf mich warteten nach dem Wegzug meiner Kinder übrigens weitere Aufgaben: Mein Schwiegervater wurde pflegebedürftig und starb, ich durfte ihn begleiten. Mein Ehemann wurde schwer krank, und ich war da. Mir wird ganz schwindelig, wenn ich diese Zeit so kurz zusammenfasse. Ich kann kaum glauben, was da alles „drin“ war – von Corona ganz zu schweigen.

Aber immer mit AA, trocken bis zum heutigen Tag. Dass ich selber auch noch gearbeitet habe ganz „nebenbei“, vergesse ich meistens zu erwähnen. Aber ich will nicht durch Leistung glänzen. Das Thema war ja, dem Unglück mit Gelassenheit zu begegnen und daran nicht zu zerbrechen.

Ich kann es mir nur so erklären, dass ich auch in diesen Jahren einen Tag nach dem anderen gelebt, die Meetings nie verlassen, das erste Glas stehen gelassen habe. Sonst hätte ich sicher leicht an alledem zerbrechen können. Bin ich aber nicht. Ich habe eher das Gefühl, ein paar weitere scharfe Ecken und Kanten könnten mir abgeschliffen worden sein. Ich weiß es nicht, aber manche Rückmeldung deutet darauf hin.

„Kann passieren, was will – gesoffen wird nicht!“, hat eine Freundin mit rauer Stimme oft in die Gruppe gerufen. Ich habe es mir gemerkt und kann es bestätigen. Dass es sich lohnt.

Katrin, eine Alkoholikerin aus Berlin

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